„Das fühlt sich an, wie meine Muttersprache!“

„Das fühlt sich an, wie meine Muttersprache!“

Ein Gespräch mit der Geigerin Judith Stapf.

Judith Stapf sitzt auf dem Fahrrad, als ich sie am Telefon erreiche. Sie ist auf dem Weg nach Hause, etwas atemlos und gut gelaunt. Seit dem Wintersemester lebt und studiert die 19jährige in der Hauptstadt. Berlin sei „super genial“ sagt sie und holt tief Luft. „Einfach großartig und total bunt! Es gibt so viele kulturelle Angebote, dass ich mir oft mehr Zeit wünsche.“ Zeit ist für Judith ein ausgesprochen kostbares Gut. Denn während sie in Berlin den zweijährigen Studiengang “Artist Diploma” absolviert, setzt sie an der Kölner Musikhochschule gleichzeitig ihr 2013 begonnenes Vollstudium fort. Sie liebt die Stadt, und sie spricht von ihr mit einer Begeisterung, wie von einem neuen, unbekannten Land, das es zu entdecken gilt.

Während sie erzählt, stelle ich sie mir für einen kurzen Augenblick, ihren Geigenkasten geschultert, mit flatternden Haaren auf ihrem Fahrrad auf den breiten Straßen Berlins, vor: Eine junge, neugierige Musikerin mitten im chaotischen Verkehrstrubel der Millionenmetropole, vorbei an Geschäften, Museen und Menschentrauben, unbeschwert und zielstrebig der Französischen Straße entgegen, gleich hinter der Staatsoper Unter den Linden, im Herzen Berlins, wo sie seit dem Wintersemester als Stipendiatin an der neu gegründeten Barenboim-Said Akademie studiert.

„Dann habe ich mich unter die Bank gelegt und geschlafen.“

Vor 16 Jahren hat Judith mit dem Geigenspiel begonnen. Da war sie drei Jahre alt. Die Voraussetzungen zu Hause waren günstig: Ihre Mutter ist Gesangslehrerin, ihr Vater seit 1991 Organist in St. Maria im Kapitol. „Musik ist so eine Art Muttersprache für mich“, sagt Judith. „Ich bin mit ihr groß geworden. Wenn ich während eines Konzerts müde wurde, habe ich nicht gequengelt, sondern mich einfach unter die Bank gelegt und geschlafen.“  Druck habe es, so Judith, von Seiten ihrer Eltern nicht gegeben. Mit drei Jahren sei sie mit ihren Eltern auf einem Violinkonzert gewesen. „Das war der Auslöser für meinen Wunsch, Geige zu lernen.“ Sie war hartnäckig – sowohl was die Durchsetzung ihres Willens, als auch was das Üben an dem neuen kleinen Instrument betraf. Ihr erstes Instrument war eine winzige  1/16-Geige – „nur geliehen, weil ich da ja ganz schnell rausgewachsen bin“.

Judith wuchs heran, und mit ihr wurden auch die Geigen größer. Mittlerweile spielt sie eine Cremoneser Violine aus dem Jahre 1663 von Andrea Guarneri. Seit über zehn Jahren steht Judith nun schon auf der Bühne und konzertiert regelmäßig im In- und Ausland, als Kind, als junges Mädchen und jetzt als 19jährige junge Frau, in der Alten Oper in Frankfurt, der Kölner Philharmonie und im Rahmen von zahlreichen Festivals in Italien, Frankreich und in den USA. Wer sie sich abgehoben vorstellt, überbehütet, in Watte gepackt und abgeschirmt von der Welt, wird schnell eines Besseren belehrt, wenn er von Judiths Begegnung mit Jerzy Gross hört.

 „Ich muss doch verstehen, um spielen zu können.“

Die Geschichte beginnt, als die damals zehnjährige Judith im Internet nach ihrem Geigenidol Itzhak Perlman sucht. Bei YouTube stößt sie als erstes auf ein Video, in dem er die Filmmusik von Schindlers Liste spielt.

Judith kennt die Musik nicht und ist irritiert von der großen Rührung des Publikums. Ihr gefällt das Stück und sie möchte es spielen. Aber sie möchte auch wissen, warum die Zuhörer so ungewöhnlich bewegt sind. Ihre Eltern erzählen ihr, dass der Film vom Holocaust handelt, von der systematischen Vernichtung der Juden in ganz Europa durch die Deutschen. „Ich will das Stück spielen! Aber doch nicht nur die Noten. Ich will wissen, worum es geht. Ich muss doch verstehen, um spielen zu können.“

„Ich hatte so viele Fragen, die noch so viele Bücher nicht hätten beantworten können,“ erinnert sich Judith. „Mein großer Wunsch war es, jemanden kennenzulernen, der “das Schlimme”, wie ich den Holocaust damals nannte, selbst erlebt hatte. Dabei hatte ich die Hoffnung, dass mich die Antworten dem Verstehen und damit der Musik näher bringen würden.“

Für eine Bekannte ihrer Eltern, die Radiojournalistin Angela Krumpen, war es leicht, diesen Wunsch ernst zu nehmen. Sie stellt den Kontakt zu Jerzy Gross her, der damals 80 Jahre alt ist und den Holocaust überlebte, weil er auf Schindlers Liste stand. „Er hat seine ganze Familie, Vater, Mutter, Bruder und 62 weitere Familienmitglieder verloren. Ermordet. Alle. Bei seiner Befreiung war der Junge 15 Jahre alt und wog 27 Kilo. Er musste seinen Weg ins Leben finden, irgendwie. Und hat sich oft gefragt, wozu er das alles überlebt hat“, schreibt Angela Krumpen in ihrem bewegenden Buch „Spiel mir das Lied vom Leben – Judith und der Junge von Schindlers Liste.“

Judith und Jerzy Gross lernen sich kennen und fahren gemeinsam nach Polen, in die ehemalige KZ-Stadt Plaszów. Es entwickelt sich so etwas wie Freundschaft zwischen den beiden. Eine ganz besondere, intensive Beziehung. „Eine Generation am Anfang, eine am Ende ihres Lebens. –  Und doch begegnen sich zwei Gleichaltrige; Jerzy war, als er „das Schlimme“ erleiden musste, so alt wie Judith bei ihrer ersten Begegnung mit ihm.“

So, wie sie mit Hartnäckigkeit zu ihrer ersten Geige gekommen ist, so war es ihre Beharrlichkeit und Unnachgiebigkeit, die letztendlich zum Kontakt mit Jerzy Gross, dem Jungen auf Schindlers Liste, führte. Judith wollte die Musik verstehen, die sie spielt, um über sie auf die Welt und das Leben zuzugreifen.

Barenboim allgegenwärtig

Mittlerweile ist Judith zu Hause angekommen. Ich will wissen, wie das Studium an der Barenboim-Said-Akademie ist. Sie läuft durch die Wohnung, legt das Telefon kurz aus der Hand, entschuldigt sich und erzählt dann begeistert vom Leben an der Hochschule: Die zahlreichen neuen und anregenden Kontakte, der Austausch mit den Studenten und Hochschullehrern und die großartige Möglichkeit den neuen Pierre-Boulez-Saal als Spielstätte zu nutzen. „Außerdem können wir dort Konzerte kostenlos besuchen,“ schwärmt sie.

Und der Maestro selbst? „Ja, Daniel Barenboim ist fast allgegenwärtig. Als er während einer Probe plötzlich in der Türe stand und zuhörte, wurde ich erst etwas nervös… Aber wir sind eine große, offene Gemeinschaft.“

„Berlin ist die Welthauptstadt der Musik geworden,“ hat Daniel Barenboim, Gründer und Präsident der Akademie, anlässlich der Aufnahme des Lehrbetriebs im Herbst vergangenen Jahres, gesagt. Er könne sich keine bessere Stadt für die Akademie vorstellen. „Die Studenten haben außerhalb des Studiums die Möglichkeit, so viel zu hören und zu lernen. Das kulturelle Angebot hier ist sogar im Vergleich mit Städten wie Paris oder New York unvorstellbar groß.“ Wo anders also, als nach Berlin, sollte es Judith Stapf ziehen, um ihre musikalische Ausbildung fortzusetzen.

Judith Stapf: Selfi mit Daniel Barenboim und Pinchas Zukerman

Zudem entsprechen Anspruch und Selbstverständnis der Barenboim-Said-Akademie auf ganz besondere Weise Judiths eigenem Anspruch und Selbstverständnis und ihrem Blick auf die Welt: „Wir wollen,“ sagt Daniel Barenboim, „nicht nur wunderbare Musiker, sondern neugierige und reflektierte Menschen ausbilden, die am gesellschaftlichen Prozess teilnehmen. Deshalb kombinieren wir in der Barenboim-Said Akademie die musikalische Ausbildung mit einem in seiner Art einzigartigen, humanistischen und geisteswissenschaftlichen Curriculum, das besonderen Wert auf kritische Reflexion und offenen Austausch legt. Der Schlüssel zu diesem Bildungsprojekt ist Begegnung: junge Menschen aus dem gesamten Nahen Osten und Europa begegnen einander wirklich, sowohl in ihrer eigenen, individuellen Identität als auch als Menschen, die eine gemeinsame Vision teilen: gemeinsam zu musizieren, zu schaffen, zu denken, zu lernen, zu wachsen.“

Judiths früher Wunsch, verstehen zu wollen, was sie spielt, wenn sie musiziert, ist mehr gewesen als eine kindliche Laune. Er ist der Motor und das Werkzeug, um über die Musik auf die Welt und das Leben zuzugreifen. Mit zwei besonderen Fähigkeiten sollen die Absolventen die Akademie verlassen, sagt Daniel Barenboim: als Musiker, die eine besondere Sensibilität für die Welt in sich und um sich herum entwickelt haben, und als Menschen, die ein gestärktes Verständnis für ihren Platz in der Welt haben.

„Mein allerliebster Lieblingsgeiger“

Damals, als Judith John Williams Filmmusik zu „Schindlers Liste“ das erste Mal hörte, war Itzhak Perlman ihr großes Vorbild. „Er war mein allerliebster Lieblingsgeiger. Aber das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Es sind andere große Geiger dazugekommen: Jascha Heifetz zum Beispiel und Pinchas Zukerman oder auch David Oistrach. Jeder von ihnen ist unverwechselbar und großartig. Von jedem von ihnen kann man viel lernen.“

Die Frage nach ihrer Interpretation von Beethovens Violinkonzert muss ich unbedingt noch stellen. Ich hatte gehört, dass sie beim Tempo bei Nathan Milstein liege. „Die Bandbreite, was das Tempo anbetrifft, ist ja mittlerweile oft riesig. Viele Stücke werden immer schneller gespielt. Das Tempo mit dem Nathan Milstein das Violinkonzert spielt, kommt mir aber am nächsten.“ Dabei vermeidet es Judith sich Aufnahmen namhafter Geiger anzuhören, bevor sie sich erst selbst einen Zugang zum Stück verschafft hat. „Wenn man erst hört, wie dieser oder jener Geiger ein Stück gespielt hat, dann nimmt mir das die Freiheit meinen eigenen Weg zu finden; es verhindert, das Neue, Besondere zu entdecken. Ein Stück für sich zu erarbeiten ist ja nicht nur Technik, sondern auch Verstehen und Kreativität.“

Eine Stunde haben wir nun schon miteinander telefoniert. Ich weiß, dass sie am Abend noch etwas vorhat und will zum Abschluss des Gesprächs nur noch wissen, welche Komponisten sie besonders mag, welche sie besonders gerne spielt. „Brahms!“ sagt sie spontan und unumwunden. „Brahms ist mir der Liebste. Seine Musik, besonders die Kammermusik, ist so strukturiert und gleichzeitig so ausdrucksstark. Brahms ist mir ganz nah. Wenn ich Brahms spiele, das fühlt sich an, wie meine Muttersprache.“

(Und doch hieß der Riese, den Brahms immer hinter sich marschieren hörte, Beethoven).

Text: Paul Schilling


Judith Stapf spielt beim diesjährigen Frühjahrskonzert des COLLEGIUM MUSICUM im Kursaal Bad Honnef am 14. Mai 2017 um 17 Uhr das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven.

Eintrittskarten erhalten Sie an den folgenen Vorverkaufsstellen in Bad Honnef:

  • Buchhandlung Werber, Hauptstraße 40
  • Zigarrenhaus Joest-Eimermacher, Hauptstraße 48
  • Stadtinformation Bad Honnef, Rathausplatz 2-4

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Mehr zu Judith Stapf finden Sie auf ihrer Homepage.